Heute, mehr als acht Wochen nach dem Terrorangriff, und nachdem zumindest ein Teil der Geiseln wieder freigelassen worden ist, wird zunehmend deutlich, was die Hamas am 7. Oktober tatsächlich tat. Sie verübte ein Massaker mit Hunderten Toten. Doch gerade am Beispiel der Ereignisse in dem Kibbuz Nir Os wird klar, wie gründlich der Überfall auf israelische Siedlungen vorbereitet worden war. Experten bezeichnen die "Geiselstrategie" als beispiellos – sowohl hinsichtlich des Ausmaßes als auch hinsichtlich der konkreten Umsetzung.
Etwa 80 der ungefähr 400 Einwohnerinnen und Einwohner von Nir Oz wurden verschleppt, also jeder fünfte. Insgesamt nahmen Extremisten am 7. Oktober etwa 240 Geiseln. Somit stammte also ein Drittel aller Geiseln aus diesem Kibbuz in unmittelbarer Nähe der Grenze zum Gazastreifen. Einige der Geiseln aus dem Kibbuz kamen während der kürzlichen Feuerpause frei, mehr als 30 sind noch immer in dem palästinensischen Gebiet. Für Israel ist Nir Os zu einem Symbol der eigenen Verwundbarkeit geworden.
Die Hamas-Kämpfer, die im Morgengrauen den Wachposten ausschalteten, waren Teil einer ersten von insgesamt wohl sieben Gruppen bewaffneter Männer, die im Laufe des Tages in den Ort kamen. Sie führten ihren Plan systematisch und unerbittlich aus. Die schutzlosen Bewohnerinnen und Bewohner konnten sich nur so gut es ging verstecken. Einige tauschten sich während des Überfalls über Chat-Gruppen aus. 9.16 Uhr: "Wie schließt man den Schutzraum ab?????"; 10.15 Uhr: "Wir sind offiziell Geiseln"; 10.19 Uhr: "Sie drohen, das Haus in die Luft zu jagen, wenn wir nicht aufmachen."
Im Laufe der grausamen Stunden wurde die Zahl der Menschen, die sich an den Chats beteiligen konnten, immer geringer. Einige von ihnen waren später in Videos der Hamas zu sehen: Eine extrem verängstigte Mutter, die ihre beiden Kleinkinder umklammert, während sie alle gewaltsam abgeführt werden; ein Junge, der an seinen Schultern weggezerrt wird; eine ältere Frau, die wieder hochgezogen wird, nachdem sie von einem Motorrad heruntergefallen ist.
Die radikalen Islamisten nahmen in Nir Os Menschen im Alter zwischen neun Monaten und 85 Jahren als Geiseln. Mehr als die Hälfte waren Frauen und Kinder. Das war sehr ungewöhnlich. Recherchen der Nachrichtenagentur AP deuten aber darauf hin, dass dies kein Zufall war. Die Auswertung von Textnachrichten der Bewohnerinnen und Bewohner sowie von Aufnahmen von Überwachungskameras, Interviews mit etlichen Zeugen sowie sichergestellte Handlungsanweisungen für Hamas-Kämpfer zeigen, dass die Extremisten gezielt Zivilpersonen ins Visier nahmen. Expertinnen und Experten für Geiselsituationen schließen daraus, dass sie sich damit von Beginn an auf einen bevorstehenden Krieg vorbereiteten.
Danielle Gilbert, Politikwissenschaftlerin an der Northwestern University im US-Staat Illinois, betont, dass die Hamas und andere Extremisten oftmals Geiseln als menschliche Schutzschilde oder als eine Art Währung im Hinblick auf Verhandlungen nutzten. Die meisten wählten jedoch Männer in guter körperlicher Verfassung. "Es ist extrem selten, dass bewaffnete Gruppen Kinder, Frauen, ältere oder aus anderen Gründen besonders verletzliche Menschen entführen", sagt die Expertin. "Der Geiselnehmer muss sicherstellen, dass die Geiseln die Gefangenschaft überleben können."
Die israelischen Streitkräfte fanden laut eigenen Angaben bei Hamas-Kämpfern, die am 7. Oktober in einem anderen Kibbuz getötet wurden, eine Art Handlungsanweisung mit dem Titel "Wie man Gefangene nimmt". Darin seien die Extremisten unter anderem aufgefordert worden, Frauen und Kinder von den Männern zu trennen. "Tötet die Schwierigen und diejenigen, die eine Bedrohung darstellen", habe es in dem Schriftstück geheißen.
Ejal Barad konnte in Nir Os rechtzeitig in einen Schutzraum flüchten. Seine Sicherheitskamera lieferte ihm Eindrücke von dem, was vor seinem Haus passierte. Ein weißer Pick-up hielt an, eine Gruppe von Männern stieg ab und verschwand zunächst aus dem Bild. Im Laufe der folgenden halben Stunde waren immer wieder Kämpfer zu sehen, zum Teil bereits mit Geiseln. Zwei Männer nahmen sich das Haus gegenüber vor und zerrten schließlich eine Frau zur Tür heraus. "Es sah sehr eingeübt aus", sagt Barad. "Es sah so aus, als wäre dies der Plan gewesen."
In einem anderen Haus ganz in der Nähe riefen zwei jugendliche Brüder ihre Mutter an. Über die offene Leitung konnte die Mutter, Renana Gome Jaacow, hören, wie die Schutzraumtür aufbrach und Männer auf Arabisch etwas riefen. Einer ihrer Söhne habe noch versucht, auf die Angreifer einzureden. "Ich konnte hören, wie er zu ihnen sagte: ‚Nehmt nicht mich, ich bin zu jung‘", erzählt die Mutter. Dann sei die Leitung abgebrochen.
Videos der Palästinenser, die dem Licht nach zu urteilen am Nachmittag aufgenommen wurden, zeigen eine recht geordnete Prozession von gestohlenen Autos, Motorrädern und landwirtschaftlichen Maschinen, die sich von Nir Os aus über die Felder in Richtung des Gazastreifens bewegt. Und auf etlichen dieser Fahrzeuge sitzen neben Kämpfern auch Geiseln.
Im Rahmen des Gefangenenaustauschs während der Feuerpause kamen die meisten Frauen und Kinder aus Nir Os frei – auch die beiden Söhne von Jaacow und die Frau, deren Verschleppung Barad über seine Sicherheitskamera sah. Doch alle aus dem Kibbuz entführten Männer sind noch immer im Gazastreifen. Ob sie wirklich alle noch am Leben sind, ist unklar.
Die Expertin Gilbert ist derweil pessimistisch, wie sich der jüngste Gefangenenaustausch auf die künftige Vorgehensweise der Hamas auswirken könnte. Sie fürchte, dass die Extremisten zu der Ansicht gelangt sein könnten, dass die Strategie relativ erfolgreich gewesen und möglicherweise einer Wiederholung wert sei, sagt sie.