Die Teuerungsrate in der Türkei erreichte im Dezember 65 Prozent, nach 62 Prozent im Vormonat. Ökonomen erwarten weitere Preissteigerungen. Die Rate könnte im Frühjahr 70 Prozent und mehr erreichen. Ohnehin gibt es Zweifel an den offiziellen Zahlen, die von der staatlichen Statistikbehörde Türkstat verbreitet werden. Nach Berechnungen der regierungsunabhängigen Forschungsgruppe Enag belief sich die tatsächliche Inflation im Dezember auf 127,2 Prozent. Diese Rate entspricht eher der von den Menschen gefühlten Teuerung, denn viele Lebensmittelpreise haben sich seit dem Vorjahr mehr als verdoppelt.
Befeuert wird der Preisanstieg vom Wertverlust der türkischen Lira, die im vergangenen Jahr gegenüber dem Dollar 37 Prozent einbüßte. Die Abwertung verteuert Importwaren und führt zu steigenden Energiekosten. Jetzt könnte nach Einschätzung von Experten die Erhöhung des staatlich festgelegten Mindestlohns zu einem weiteren Preisschub führen. Arbeitsminister Vedat Isikhan hat zum 1. Januar eine Anhebung auf 17.002 Lira, umgerechnet 523 Euro angekündigt. Das entspricht einer Erhöhung von 49 Prozent.
Die Lohnerhöhung könnte nicht nur weitere Preissteigerungen auslösen, sondern auch zu Jobverlusten führen, warnte jetzt Hakan Aran, der Chef der Isbank, bei einer Pressekonferenz. Probleme dürfte der höhere Mindestlohn zum Beispiel in der lohnintensiven türkischen Textilindustrie verursachen, einer der wichtigsten Exportbranchen des Landes. Viele Betriebe laufen Gefahr, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren, wenn die Löhne weiter steigen.
Die Probleme sind hausgemacht. Bis zu den Parlaments- und Präsidentenwahlen im vergangenen Mai flutete Erdogan das Land mit billigem Geld, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Auf seine Weisung musste die Zentralbank die Zinsen trotz steigender Inflation immer weiter senken. Erdogan, der nach eigenen Angaben Wirtschaftswissenschaften studiert hat, vertrat lange die Meinung, man müsse die Inflation mit Zinssenkungen bekämpfen – das Gegenteil der gängigen geldpolitischen Lehre. Die niedrigen Zinsen halfen zwar beim Wirtschaftswachstum, ließen aber die Lira gegenüber Dollar und Euro immer weiter abstürzen. Die Abwertung erhöhte den Inflationsdruck – ein Teufelskreis.
Erst nach der geglückten Wiederwahl Ende Mai vergangenen Jahres warf Erdogan das Ruder herum. Als neue Notenbankchefin engagierte er Hafize Gaye Erkan, eine türkische Bankerin aus den USA. Sie hat bei der Geldpolitik bisher offenbar freie Hand. Die Zentralbank erhöhte seit Ende Mai die Leitzinsen in mehreren Schritten von 8,5 auf 42,5 Prozent. Finanzexperten erwarten noch im Januar einen weiteren Zinsschritt auf 45 Prozent.
Es ist eine schmerzhafte Rosskur für die türkische Wirtschaft. Die Erhöhung der Leitzinsen zeigt bisher bei der Inflationsbekämpfung wenig Wirkung. Auch die jüngsten Erfahrungen im Euro- und Dollarraum haben gezeigt: Bis Leitzinserhöhungen die Teuerung dämpfen, vergehen zwölf bis 18 Monate. Viel schneller werden die negativen Wirkungen der hohen Zinsen spürbar: Sie bringen immer mehr Unternehmen in Schwierigkeiten, weil sie den Schuldendienst massiv verteuern. Viele Firmen haben zunehmend Probleme, ihre Kredite zu bedienen. Die Schmerzgrenze ist bald erreicht: „Eine Erhöhung der Leitzinsen auf 45 Prozent könnte zu Verlusten von Arbeitsplätzen in einigen Branchen führen“, warnt Isbank-Chef Aran.
Nun bekommt Erdogan die Quittung für seine verfehlte Geldpolitik der vergangenen Jahre. Eine Rezession und steigende Arbeitslosigkeit sind das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann. Denn Ende März stehen wichtige Kommunalwahlen an. Für Erdogans Regierungspartei AKP geht es darum, Großstädte wie Istanbul, Ankara, Antalya, Adana und Bolu, die sie 2019 an die Opposition verloren hatte, zurückzuerobern. Vor allem Istanbul, die größte Stadt des Landes, will Erdogan wieder unter seine Kontrolle bringen. Das ist für den Staatschef so etwas wie eine Sache der persönlichen Ehre. Denn mit der Wahl zum Oberbürgermeister der Bosporusmetropole begann 1994 sein politischer Aufstieg.