Im Sommer 2020 standen Athen und Ankara im Streit um die Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer kurz vor einer militärischen Konfrontation. Erdogan drohte damit, griechische Inseln zu erobern und die Viermillionenstadt Athen mit Raketen zu beschießen. Im Frühjahr 2022 brach er alle Kontakte mit Griechenland ab und erklärte Mitsotakis zur Persona non grata. Der Grund: In einer Rede vor dem US-Kongress in Washington hatte der griechische Premier indirekt vor der Lieferung amerikanischer Kampfflugzeuge an die Türkei gewarnt. Erdogan grollte daraufhin, Mitsotakis existiere für ihn nicht mehr, er werde "ihn nie wieder treffen".
Jetzt kommen aus Ankara versöhnliche Töne. Bei einer Begegnung am Rand des Nato-Gipfels in Vilnius vereinbarten Erdogan und Mitsotakis im Juli, die Weichen auf Wiederannäherung zu stellen und "häufigere Kontakte auf allen Ebenen" anzustreben. Anfang September besuchte der griechische Außenminister Giorgos Gerapetritis seinen türkischen Amtskollegen Hakan Fidan in Ankara. Der griechische Chefdiplomat notierte "ein Klima des Optimismus". Fidan sprach von einer "neuen und positiven Ära in den Beziehungen zu Griechenland".
Erdogan hat gute Gründe, jetzt auf Griechenland zuzugehen. In den vergangenen Jahren brauchte er das Feindbild Griechenland, um Stimmen im nationalistischen Lager zu mobilisieren. Nach der Wiederwahl im Mai kann Erdogan rationaler handeln. Die schwere Finanzkrise zwingt ihn zu einer Wiederannäherung an die EU und die USA. Griechenland ist dabei eine wichtige Brücke. Für die Ausweitung der Zollunion mit der EU, von der die türkische Wirtschaft stark profitieren würde, braucht Erdogan die Zustimmung Griechenlands. Überdies gibt es im US-Kongress eine starke griechische Lobby. Sie macht die von der Türkei gewünschte Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen davon abhängig, dass Erdogan auf Kriegsrhetorik und militärisches Muskelspiel gegenüber Griechenland verzichtet. Noch im vergangenen Jahr donnerten türkische Kampfpiloten fast täglich über griechische Inseln. Das hat fast völlig aufgehört.
Aber einen Durchbruch bedeutet das noch nicht. Die Konflikte sind kompliziert und gehen weit in die Geschichte zurück. Sie wurzeln letztlich in der fast 400-jährigen türkischen Besatzung Griechenlands, die Mitte des 15. Jahrhunderts begann und in den 1820er-Jahren mit dem griechischen Unabhängigkeitskrieg endete. 1923 bestimmte der Vertrag von Lausanne die Grenzziehung zwischen beiden Ländern. Aber Athen und Ankara streiten seit Jahrzehnten über die Hoheitsgewässer und Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer. Wegen der vielen griechischen Ägäisinseln ist das ein völkerrechtlich kniffliges Thema.
Die Türkei beschuldigt Griechenland überdies, es verstoße mit der Stationierung von Militär auf einer Anzahl ostägäischer Insel gegen den Vertrag von Lausanne, der eine Demilitarisierung der Inseln vorsieht. Griechenland verweist darauf, dass die Türkei an ihrer Küste mit der sogenannten Ägäisarmee seit 1975 die größte amphibische Streitmacht im Mittelmeer aufgebaut hat und beruft sich auf sein Recht zur Selbstverteidigung. Ankara wiederum leitet daraus ab, Griechenland verliere die Hoheitsrechte über Inseln wie Lesbos, Samos, Kos und Rhodos.
Griechenland schlägt seit Langem vor, im Streit um die Wirtschaftszonen in der Ägäis den Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH) anzurufen. Dazu müssten sich beide Seiten vorab verpflichten, den Urteilsspruch des IGH anzuerkennen und umzusetzen. Die Türkei zögert bisher. Aber jetzt öffnet sich vielleicht ein Fenster. Diplomatinnen und Diplomaten in Athen halten es für möglich, dass sich beide Regierungen im kommenden Jahr auf den Gang zum IGH einigen könnten.
Noch vor Ende dieses Jahres soll im nordgriechischen Thessaloniki erstmals seit mehr als sieben Jahren der oberste Kooperationsrat beider Länder tagen, ein 2009 ins Leben gerufenes Gremium, das aber bisher nur viermal zusammentrat. An dem Treffen ranghoher griechischer und türkischer Minister und Diplomaten wollen auch Erdogan und Mitsotakis teilnehmen. Damit signalisieren die beiden Regierungschefs, dass sie an einer Entspannung interessiert sind. Die Annäherung könnte mit einer engeren Zusammenarbeit bei wirtschaftlichen Projekten, im Tourismus, beim Klima- und Katastrophenschutz beginnen.
Die beiden Außenminister Gerapetritis und Fidan vereinbarten bei ihrem Treffen in Ankara bereits die Einrichtung eines "Roten Telefons". Der direkte Draht soll dazu dienen, Krisen zu entschärfen, bevor sie eskalieren. Davon kann auch die Nato profitieren. Beide Länder traten 1952 gemeinsam dem Bündnis bei. Aber für die Allianz bedeuten die chronischen griechisch-türkischen Spannungen eine erhebliche Belastung. In den vergangenen 50 Jahren gerieten die Nachbarländer sechsmal an den Rand eines Krieges. Seit Jahren lieferten sich Kampfpiloten beider Länder mit voll bewaffneten Jets sogenannte Dogfights, Verfolgungsjagden über der Ägäis. Daraus kann schnell Ernst werden. Angesichts der russischen Invasion in der Ukraine ist ein bewaffneter Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei das Letzte, was Nato und EU jetzt brauchen.
Auch Griechenland hat Interesse an einer dauerhaften Entspannung. Das Land gab im vergangenen Jahr 3,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung aus und lag damit in der Nato an der Spitze, noch vor den USA. Der Hauptgrund für die Aufrüstung ist die gefühlte Bedrohung durch die Türkei. Die hohen Verteidigungsausgaben waren eine Ursache der griechischen Staatsschuldenkrise in den 2010er-Jahren. Eine Beilegung der Konflikte mit der Türkei würde nicht nur den griechischen Staatshaushalt erheblich entlasten, sondern auch neue Möglichkeiten in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der beiden Nachbarländer eröffnen.
dp/fa