
Nach internationalem Recht hat das israelische Militär auch die Aufgabe, die palästinensische Zivilbevölkerung im Westjordanland zu schützen. Dieser Aufgabe ist die Armee in den fast sechs Jahrzehnten der Besatzung nach Ansicht von Palästinensern häufig nicht nachgekommen. Sie werfen dem Militär vor, die Angriffe radikaler Siedler vielfach nicht gestoppt zu haben. Soldaten hätten sich teilweise sogar den Siedlern angeschlossen – so lauten die Vorwürfe.
Mit der Mobilisierung von mehr als 300.000 israelischen Reservisten im aktuellen Gaza-Krieg wurden auch Siedler zum Dienst einberufen – und viele von ihnen mit der Überwachung ihrer eigenen Gemeinden betraut. Sie ersetzen zum Teil reguläre Bataillone aus dem Westjordanland, die im Krieg eingesetzt werden, wie das Militär erklärt. Und viele der neuen, mit Uniformen und Sturmgewehren ausgestatteten Aufpasser stehen den Palästinensern nicht gerade wohlgesonnen gegenüber. Die Brutalität des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober habe ihn in seiner Überzeugung bestärkt, dass die Palästinenser entschlossen seien, "uns zu ermorden", sagt Tom Kleiner, ein Reservist, der Bet El – eine Siedlung in der Nähe der palästinensischen Stadt Ramallah – bewacht. "Wir töten Araber nicht ohne Grund. Wir töten sie, weil sie versuchen, uns zu töten", schildert er.
"Stellen Sie sich vor, dass das Militär, das Sie eigentlich beschützen sollte, jetzt aus Siedlern besteht, die Gewalt gegen Sie ausüben", sagt Ori Givati von Breaking the Silence, einer Gruppe israelischer (Ex-)Soldaten, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Öffentlichkeit über die Realität in den besetzten Gebieten zu informieren.
Hebron ist der einzige Ort im Westjordanland, an dem israelische Siedler nicht in separaten Gemeinschaften, sondern inmitten von Palästinensern leben – unter schwerem Militärschutz. Die israelische Armee habe es 750 Familien in der Altstadt zuletzt verboten, das Haus zu verlassen, außer für eine Stunde am Morgen und eine am Abend, und auch das nur an drei Tagen in der Woche, berichten Bewohner Hebrons und die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem.
Schulen sind geschlossen, die Arbeit wurde eingestellt. Kranke Menschen sind zu Verwandten in den palästinensisch kontrollierten Teil der Stadt gezogen. Von B’Tselem veröffentlichtes Filmmaterial zeigt, wie israelische Siedler abends umherstreifen und Palästinenser verspotten, die ihre Häuser nicht verlassen können. Noch nie sei das Leben in der Stadt so schwierig gewesen, sagt Imad Abu Schamsija, der seit 52 Jahren in Hebron wohnt. "Dieser Terror, dieser Druck ist anders als früher."
Das israelische Militär teilte zur Ausgangssperre mit, es habe "im Rahmen der Sicherheitseinsätze in der Gegend" weitere Checkpoints errichtet. Seit dem Beginn des Krieges hätten Angriffe durch militante Palästinenser erheblich zugenommen. Hunderte Palästinenser wurden in den vergangenen Wochen verhaftet und Dutzende getötet. Viele von ihnen sollen Verbindungen zur Hamas im Gazastreifen haben.
Palästinenser berichten, Siedler würden fast täglich das Dorf Kusra stürmen, Olivenhaine mit Zement bedecken und Autos und Häuser mit Benzin übergießen. Am 11. Oktober zogen sie demnach durch die staubigen Straßen und schossen auf Familien in ihren Häusern. Insgesamt vier Menschen sollen getötet worden sein.
Am nächsten Tag sollen Siedler, angestachelt von Aufrufen in sozialen Netzwerken, einen Beerdigungszug angegriffen haben. Sie hätten Straßen blockiert und die Trauernden beschossen, berichten Teilnehmer. Die meisten Palästinenser seien aus den Autos gesprungen und durch die Felder davongerannt. Ibrahim Wadi, ein 62-jähriger Chemiker, und sein 26-jähriger Sohn Ahmed, ein Rechtsanwalt, wurden getötet. Der Nachrichtenagentur AP lagen Online-Kommentare von Siedlern vor, die ihre Freude über die Todesfälle unverhohlen zum Ausdruck bringen.
Seit Beginn des Krieges sei ein Großteil der wichtigsten Nord-Süd-Autobahn im Westjordanland für Palästinenser gesperrt, berichtet die Anti-Siedlungs-Bewegung Peace Now. Pendler, die früher zehn bis 20 Minuten brauchten, müssen nun stundenlange Umwege über gefährliche Schotterstraßen fahren. Die Beschränkungen, so der palästinensische Politiker Mustafa Barghuti, hätten "das Westjordanland in 224 Ghettos geteilt, die durch geschlossene Kontrollpunkte voneinander getrennt sind".
Die 160.000 palästinensischen Arbeitnehmer, die vor dem 7. Oktober in Israel und den israelischen Siedlungen arbeiten durften, verloren über Nacht ihre begehrten Genehmigungen, wie die israelische Verteidigungsbehörde mitteilt, die die palästinensischen Zivilangelegenheiten überwacht. Anfang November erlaubte die Behörde 8000 dieser Arbeitnehmer die Rückkehr in Fabriken und Krankenhäuser. Wann die anderen wieder ihrer Arbeit nachgehen dürfen, ist unklar.
Viele Palästinenser freuen sich das ganze Jahr über auf den Moment im Herbst, wenn sich die grünen Oliven schwarz färben. Die zweimonatige Erntezeit ist ein beliebtes Ritual und ein willkommener Nebenverdienst. In diesem Jahr soll die Ernte jedoch von Gewalt überschattet worden sein. Berichten zufolge versperrten Soldaten und Siedler Dorfbewohnern den Zugang zu den Plantagen und setzten Bulldozer ein, um die knorrigen Wurzeln jahrhundertealter Bäume zu zerstören.
Soldaten hätten in die Luft geschossen und sie von ihrem Land gezerrt, als sie sie letzte Woche bei der Olivenernte gesehen hätten, schildert Hafida al-Katib, eine 80-jährige Bäuerin in dem Palästinenserdorf Karjut. Das Militär erklärte, es habe Berichte über Gewalt gegen Palästinenser und deren Eigentum "gründlich geprüft". "Dementsprechend werden disziplinarische Maßnahmen ergriffen", hieß es allgemein.
Im Beduinendorf Wadi al-Sik sollen am 12. Oktober drei Palästinenser stundenlang gefoltert worden sein. Die erschütternden Schilderungen wurden zuerst von der israelischen Tageszeitung "Haaretz" veröffentlicht. An diesem Tag seien maskierte Siedler in Armeeuniformen in den Ort gestürmt und hätten einen Beduinen und zwei palästinensische Aktivisten in Pick-ups gestoßen, berichteten Dorfbewohner.
Einer der Aktivisten, der 46-jährige Mohammed Matar, sagte, sie seien gefesselt, geschlagen, bis auf die Unterwäsche ausgezogen und mit Zigaretten verbrannt worden. Die Siedler hätten auf ihn uriniert, ihn mit einem Stock anal penetriert und ihn angeschrien, er solle nach Jordanien gehen. Er hat – ebenso wie die 30 übrig gebliebenen Familien – Wadi al-Sik nach seiner Freilassung verlassen. Das israelische Militär erklärte, es habe den verantwortlichen Kommandeur entlassen und untersuche den Vorfall.